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08.09.2001 |
»Selbstverwaltung spielte eine große Rolle« |
Was bleibt 25 Jahre nach Maos Tod von den Impulsen, die er einst der Jugendrevolte in Westeuropa gab? jW-Gespräch mit Willi Hayek |
*** Vor 25 Jahren, am 9. 9. 1976, ist Mao Tsetung, der legendäre Vorsitzende der KP Chinas, gestorben. Sein Wirken hat nicht nur China geprägt, die von ihm initiierte Kulturrevolution hat in den 60ern und frühen 70ern rund um den Globus Hunderttausende, wenn nicht Millionen junger Arbeiter und Studenten inspiriert. Willi Hajek, linker Gewerkschafter aus Berlin, hat diese Zeit in Frankreich erlebt und dort in einer maoistischen Gruppe gearbeitet. Im Gespräch mit junge Welt berichtet er von der Faszination, die die Kulturrevolution auf ihn wie auf viele ausübte, indem sie Überkommenes radikal in Frage stellte, und zwar auch die verknöcherten Strukturen in den eigenen Reihen. Heute arbeitet Willi Hajek in der gewerkschaftlichen Bildungsarbeit und engagiert sich im internationalen Austausch zwischen Basisaktivisten. *** F: Welche Rolle hat Mao in Ihrem Leben gespielt? Mao und vor allem auch die Entwicklung in China selbst hat sehr viel zu tun mit meiner Jugendzeit. Ich war in den 60ern viel in Paris. Freunde meines Vaters sind nach Frankreich gegangen, die habe ich in den Ferien oft besucht. In dieser befreundeten Familie habe ich viele der Diskussionen der französischen Linken mitbekommen. Der Vater, ein Techniker, neue Arbeiterklasse haben wir das damals genannt, hat sehr viel erzählt: über den Algerienkrieg, über die Betriebe, usw. Auch über China haben wir angefangen zu reden. Ich bin also in diesen Diskussionen mit der Vorstellung groß geworden, daß es da die Sowjetunion gab, aber auch noch etwas anderes. In der Sowjetunion waren die Fabriken verstaatlicht, aber es war auch alles schon sehr früh verbürokratisiert. Der Sozialismus da drüben, sagte er immer, sieht genau so aus wie das, was Gewerkschaften und KPF bei Renault machen. F: Und das war für Sie als Jugendlicher, der nach neuen Wegen suchte, unakzeptabel? Ja. Auf der anderen Seite gab es dann schon Berichte aus China. Auch ganz normale Zeitungen berichteten 67, 68 über »Zwei Wege im Aufbau des Sozialismus«, wie man das damals nannte. Ich weiß noch heute, wie mir die chinesischen Vorstellungen in der Bildungspolitik eingeleuchtet haben. Die Schulen wurden umorganisiert. Es kam nicht darauf an, Buchwissen anzuhäufen, immer nur Bücher, Bücher, Bücher zu lesen. Die Schüler sollten hinausgehen, sehen, wie die Leute arbeiten. Wissen kommt aus der Praxis, hieß es. Das leuchtete mir schon ein, bevor ich das erste Mao-Buch gelesen hatte. Besonders, da ich selbst aus Arbeiterverhältnissen kam. Und weil ich die Schule so erlebt habe, daß sehr viel Wissen sofort wieder vergessen wurde, weil es überhaupt keine Bedeutung hatte. Da könnte ich stundenlang erzählen, warum gerade so etwas mich unheimlich angesprochen hat. F: Die ganze Kulturrevolution? Ja, aber die Kulturrevolution hatte für mich vor allem damit zu tun, wie eine Fabrik anders aussehen könnte. Ich erinnere mich noch an ein Buch von Macciocci und Bettelheim: »Wie sieht eine chinesische Fabrik aus«. Da gab es keine Rationalisierungsbüros - oben große Büros, die die Arbeiter kontrollieren und beobachten. Das war eine vollkommen andere Funktionsweise. F: Daß das Ganze nicht allzu viel mit der chinesischen Realität zu tun hatte, hat damals kaum jemanden interessiert? Das frage ich mich heute auch sehr oft. Bemerkenswert war, daß sehr viele Berichte von Augenzeugen stammten. Besonders in Frankreich sind sehr viele Reiseberichte und ähnliches erschienen, vielmehr als in Westdeutschland. Das waren oft sehr anschauliche Berichte, die mit ehrlicher Begeisterung geschrieben waren. Zum Beispiel über das Schulwesen oder die Umorganisierung des Gesundheitswesens. Da gab es diese Bewegung der Barfußärzte, das Weg von der Schul- und Apparatemedizin. Auch in der Medizin war das Entscheidende, die Lebensbedingungen der Menschen zu kennen und zu verändern. F: Aber die Berichte, die es dann doch irgendwann gab über die Verfolgung von Intellektuellen und die geistige Enge, die Hatz auf Abweichler, haben nicht überzeugt? Die kamen viel später. Und dann war da oft die Frage, wer mit welchem Motiv kritisierte. Wir haben uns damit nicht lange aufgehalten. Das Denken, das da aus der Kulturrevolution herüberkam, dieser Aufbruch war sehr anziehend. Die große Schwierigkeit scheint hingegen die Umsetzung gewesen zu sein, würde ich aus heutiger Sicht sagen. Ich habe in jener Zeit auch Reiseberichte aus der Sowjetunion der 20er Jahre gesammelt. Fast die gleiche Situation: Auf der einen Seite das Paradies der Sowjetunion - und auf der anderen Seite die Hölle; aber beides in der Form von Augenzeugenberichten. Offensichtlich ist es eine ungeheure Schwierigkeit, all die revolutionären Projekte und Ideen in die Realität umzusetzen. Eine viel größere, als wir je gedacht haben. Aber die chinesischen Ideen von einem anderen Weg zum Sozialismus hatten für uns eine große Attraktivität und haben letztendlich eine Diskussion über die Theorie der Produktivkräfte angestoßen. Das Brechen mit dem technischen Fortschrittsglauben der Arbeiterbewegung war für uns ganz eng mit China verbunden. F: Sie meinen, daß die unkritische Technikfaszination, die in der Arbeiterbewegung sehr weit verbreitet war und teilweise immer noch ist, durch die Kulturrevolution und die Mao- Tsetung-Ideen in Frage gestellt wurde? Ja. Einer, der in Westeuropa für diese Diskussion besonders wichtig war, war Charles Bettelheim, der viel über diese Fragen geschrieben und Auffassungen wie die, daß die Automation die Grundlage des Sozialismus sei, kritisiert hat. Unserer Meinung nach waren das in der Sowjetunion und der DDR sehr mechanische Auffassungen, die zu einer Erstarrung des Denkens geführt hatten. Der Punkt, an dem ich besonders angefangen habe, über Fortschritt nachzudenken, war etwas später die Auseinandersetzung um die Atomkraft. F: Aber zunächst haben - zumindest in Westdeutschland - die maoistischen Gruppen den alten Technikfetischismus mitgemacht und diese neue Sicht der Entwicklung der Produktivkräfte, die Sie im Maoismus sehen, nicht nachvollzogen. Ich denke, es gibt grundlegende Unterschiede zwischen den maoistischen Strömungen. Auf der einen Seite gab es natürlich das, was Sie beschreiben. Besonders in Deutschland habe ich solche Gruppen erlebt. Da gab es Gruppen, die die Partei zum Fetisch gemacht haben und im Grunde auch der Kulturrevolution skeptisch gegenüberstanden, weil das eine Bewegung war, die zum Teil aus der Kontrolle geriet. Ich kann mich noch sehr gut an Treffen der KPD/ML erinnern. Das war wie in meiner Kindheit, wo man sonntags hübsch gekleidet und gescheitelt sein mußte. Das waren totale Spießerversammlungen. Daran wurde für mich auch deutlich, daß das keine Leute gewesen sein konnten, die selbst in der Enge von Arbeiterhaushalten der 50er und 60er groß geworden sind. F: Das haben Sie in Frankreich anders erlebt? Ja, in Frankreich waren diese Parteigruppen eine Minderheit in der maoistischen Strömung. Gauche Prolétarienne (Proletarische Linke), bei der ich mitgemacht habe, hat z. B. in den Armenvierteln in Nanterre Essen verteilt, das aus Feinkostläden herausgeholt wurde. Solche Robin-Hood-Aktionen wurden gemacht. Zweitens haben wir uns mit Fragen wie Ökologie in China, wie geht man mit den Umweltproblemen von Stahlwerken um usw., auseinandergesetzt. Fragen wie Arbeitsorganisation und die Stellung des einzelnen Arbeiters spielten für uns eine wichtige Rolle. Sachen also, die wir viel später in Deutschland in Gewerkschaftsgruppen diskutiert haben. Wir hatten immer die KPF vor Augen mit ihren zentralistischen Vorstellungen vom Sozialismus. Das war für uns sehr anschaulich. F: Anschaulich abstoßend ... Anschaulich abstoßend. Aber täglich erlebt. Und im Mai 68 faktisch auch physisch erlebt. Die KPF versuchte, den Einfluß, den sie auf die Mehrheit der Arbeiterklasse hatte, gegen die Bewegung zu nutzen. Die Studentenbewegung bestehe aus Bourgeoise-Kindern, haben sie verbreitet. Aber das stimmte gar nicht. Es waren sehr viele junge Arbeiter dabei, die genauso rebelliert haben. Aber es war zum Beispiel zu Anfang sehr schwierig, Flugblätter vor den Fabriken zu verteilen. Die Gewerkschaft, die unter KP- Einfluß stand, mobilisierte ihre Truppen, und es gab regelmäßig physische Auseinandersetzungen. Es ging gegen die Neue Linke und speziell gegen Maoisten. Was in den 50ern für die KP der Trotzkist als Feindbild war, wurde nun der Maoist oder im Prinzip die ganze Neue Linke. F: Haben denn die Maoisten 68 im Pariser Mai die entscheidende Rolle gespielt? Der maoistische Einfluß war riesengroß. Das lag daran, daß auch so zentrale Denker wie Althusser, der aus der KPF kam, in den Jahren zuvor angefangen hatten, über Mao und über die Widersprüche im Sozialismus laut nachzudenken. Vielen wurde klar, daß die stalinistische Denkweise eigentlich etwas sehr Undialektisches hat. Diese Diskussionen waren wichtig, aber die eigentliche Anziehungskraft kam aus dem rebellischen Moment, das sich gegen diese Art autoritären Sozialismus richtete. Als Antwort spielte die Frage der Selbstverwaltung eine wichtige Rolle. F: Aber würden Sie rückblickend nicht sagen, daß da die KP Chinas und Mao Tsetung mißverstanden wurden? Das ist nicht leicht zu beantworten. Ich denke, daß es Mao bewußt war, wie schwer es ist, eine Gesellschaft wirklich zu verändern, daß es eine ständige Kulturrevolution braucht. Bei den Trotzkisten war das früher die permanente Revolution. Die Kulturrevolution, hat Mao gemeint, muß sich in Abständen wiederholen. Ich denke, daß dieser Bruch mit einer ganz bestimmten Kultur, ob feudaler oder bürgerlich-kapitalistischer Kultur, noch immer aktuell ist. Nur die Zeit für diese Umgestaltung wurde total unterschätzt. F: Aber wie verhindertman solche Auswüchse wie die Intellektuellen-Hatz oder die Geschichte, daß die Generation der Kulturrevolution heute die verlorene Generation ohne Ausbildung ist? Was kann man da machen? Zunächst einmal finde ich es sehr schwierig, von Europa aus ein Urteil über China abzugeben, den Chinesen zu sagen, was sie machen sollen. Außerdem ist es immer ein Problem der linken Bewegungen gewesen, die Verhältnisse in China oder in anderen Ländern, die noch keinen entwickelten Kapitalismus hatten, in Verbindung mit Sozialismus zu bringen. In einer Anfangsphase gibt es meistens eine demokratische Entwicklung, die Eigentumsverhältnisse - gerade auch auf dem Land - werden umgestaltet. Aber dann ist, glaube ich, die Konsequenz fast unvermeidlich, daß es zu relativ starren bürokratischen Strukturen kommt und die Entwicklung eher rückwärts geht. Besonders, wenn eine Einheitspartei da ist. Wir hatten früher die Vorstellung von Sozialismus, daß die Partei die Mehrheit der Bevölkerung repräsentiert und der Weg zur Freiheit über die Partei geht. Genau diese führende Rolle der Partei, denke ich, ist der Knackpunkt, wo das maoistische Denken immer noch befangen ist. Eigentlich ist das eine bürgerliche Vorstellung von Befreiung, die das Subjekt der Befreiung außerhalb der Gesellschaftsmehrheit sieht. Und wenn die Mehrheit dann anders will, kommt es zum Zwang. An dieser Stelle kommen wir wieder zu den unterschiedlichen Strömungen im Maoismus. Diejenige, die von Leuten wie Charles Bettelheim repräsentiert wurde und zu der ich mich zählen würde, sagte, der Beginn der Gegenentwicklung in der Sowjetunion war die Zwangskollektivierung. Es sollte schnell industrialisiert werden, und das Mehrprodukt dafür mußte natürlich in der Landwirtschaft erwirtschaftet werden. Die Bauern aber wollten ihr Land behalten. Sie hatten die Revolution gemacht, um die Grundbesitzer zu enteignen. Also mußte man sie nun zwingen. Andere maoistische Gruppen, wie in Deutschland die KPD/ML und die MLPD, haben diese Politik verteidigt und sehen die Abkehr vom Sozialismus viel später. Für sie hat es einfach 1956 nach Stalins Tod einen Putsch gegeben. Das ist ein ganz fundamentaler Unterschied in der Sichtweise, der auch alles weitere erklärt. F: Und heute? Was bleibt vom Aufbruch? Zunächst noch ein Punkt zu den 70ern. In unseren Diskussionen spielte die Frage immer eine wichtige Rolle, wie Sozialismus hier aussehen könnte, und das wiederum hatte viel mit den großen sozialen Auseinandersetzungen und Streikbewegungen zu tun. Deshalb haben uns auch die Ereignisse in Polen 1970 so beeindruckt, wie dort im Streik die Arbeiterklasse ihre Stimme fand. Dann war da die Auseinandersetzung um die Uhrenfabrik Lip in Frankreich, die sich über viele Jahre hinzog. F: Dort hatten die Arbeiter die Fabrik übernommen. Genau. Mehrheitlich waren es Frauen. Die Uhrenproduktion war sehr stark getaktet. Nun fing man an, selbst über das Tempo der Fließbänder zu bestimmen. Arbeitsrhythmus und Lohnkriterien wurden von den Arbeiterinnen und Arbeitern festgelegt. Die Uhren wurden über ein Solidaritätsnetz vermarktet. Für uns war das für lange Jahre ein Beispiel dafür, wie es einmal aussehen könnte im Sozialismus. Wir sind oft mit unseren Gewerkschaftsgruppen hingefahren, um uns das anzuschauen. F: Ist das auch heute noch die Perspektive, daß die Arbeiter die Fabriken übernehmen? Das ist für mich eine der Grundvoraussetzungen. Nur denke ich, daß genau da viele kritische Leute stehengeblieben sind. Die Meinung ist immer noch weit verbreitet unter Linken, daß man enteignet, und das war es dann. Die zweite und viel schwierigere Frage, über die sich zu wenig Gedanken gemacht wird, ist aber, wie stellt sich der gesamtgesellschaftliche Zusammenhang her. Wie treten die Arbeiter, wenn sie ihre Betriebe selbst verwalten, in Beziehung zueinander; wie organisieren sie den Austausch? Daß das keine einfache Frage ist, haben wir ja u. a. in Jugoslawien gesehen. F: Wie könnten diese Beziehungen aussehen? Mit Geld können sie jedenfalls nicht hergestellt werden, denn dann entwickelt sich ja doch wieder eine Warenproduktion. Für mich ist das heute eine der zentralen Fragestellungen: Wie kann die Warenproduktion aufgebrochen, wie kann die Gesellschaft anders organisiert werden? Die Antwort ist nicht einfach, aber eines ist für mich klar: Sie kann nicht darin bestehen, daß man sagt, der Staat muß es übernehmen. Ich glaube aber, daß es an diesem Punkt heute mehr Perspektive gibt als in den 70ern. Auf der einen Seite sind zwar unsere ganzen Beziehungen, die der Menschen untereinander, viel stärker durchkapitalisiert als vor 20 oder 30 Jahren. Alles nimmt Wertform an. Jeder merkt, daß er sich irgendwie einbringen muß. Auf der anderen Seite wird aber viel mehr versucht, auch in kleinen Gruppen, sich Gedanken zu machen, die die Kritik am Kapitalismus wesentlich weiter treiben, über die bloße Frage nach den Besitzverhältnissen hinaus. Außerdem ist da der Kampf ums Überleben. Meiner Meinung nach haben die sozialen Kämpfe eine andere Qualität als früher. Früher ging es eher um Arbeitszeitverkürzung und mehr Lohn. Die Kapitalisten sollen zahlen. Punkt. Für die heutige Entwicklung spielen hingegen z. B. die Auseinandersetzungen um die Sozialversicherungen eine ganz zentrale Rolle. Bei der Privatisierung der Rentenversicherung geht ja Deutschland derzeit voran. Ich denke, daß das bei der Rekonstruktion der Bewegung, bei dem Aufbau einer neuen Bewegung gegen die Lohnarbeit die Kernfrage sein wird. Das gilt natürlich genauso für die Krankenversicherung. Auf der einen Seite gibt es einen enormen Entsolidarisierungsprozeß, der auch von Teilen der Gewerkschaften unterstützt wird. Es zählt nur noch, wer kapitalproduktiv, d. h. nützlich ist. Wer krank wird, nicht mehr kann, fliegt raus. Das wird sich verschärfen. Aber auch der Widerstand nimmt zu. Von daher sehe ich andererseits auch mehr Möglichkeiten. Ich denke, es besteht die Aussicht, daß die Mehrheit der Gesellschaft kapitalkritischer wird, und zwar viel grundsätzlicher als in den 70er Jahren. Das Gespräch führte Wolfgang Pomrehn |