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Sonntag, 3. 9. 2006, 16 Uhr; im »Atelier Unsichtbar« (Innerer Nordbahnhof 73)
Warum erscheint es als eine weit verbreitete Selbstverständlichkeit, dass anscheinend alle Arbeitsprodukte, sobald sie Warenform annehmen, »ihren Preis haben«, oder dass angelegtes »Geld arbeitet«, oder umgekehrt, dass Geldkapital anscheinend »raffend«, also »unehrlich« verdient sei, eine »Heuschreckenplage«, während Handwerk oder industrielle Produktion »ehrlich« und »schaffend« sei, oder dass es wichtig sei, ein »wertvoller Mitarbeiter« zu sein (Gewerkschaftsslogan), oder dass das Eigentum von Grund und Boden quasi natürlich eine Grundrente abwerfe und man für »ehrliche Arbeit«, wenn es nur »gerecht zuginge«, einen der Tätigkeit entsprechenden »Lohn« erhält? Was haben all diese Vorstellungen mit »Alltagsreligion« zu tun und aus welchen Vergesellschaftungsformen entspringen sie?
Wenn im Allgemeinen von Warenfetischismus die Rede ist, sind üblicherweise konsumkritische Vorstellungen nicht weit entfernt, z.B. das Anprangern von Markenbewusstsein, dass Waren aggressiv und sexuell aufgeladen beworben werden, dass ein allgemeiner »Konsumterror« vorherrsche und dass einige Produkte, die »eigentlich« elementare Bedürfnisse befriedigen sollen, nunmehr als Statussymbole dienten. In der Marxschen »Kritik der politischen Ökonomie« dagegen wird mit Fetischismus eine bestimmte Art und Weise der Vergesellschaftung bezeichnet, die den Kapitalismus weder auf personale Herrschaft (»die Ausbeuter da oben und wir ehrlichen Arbeiter_innen da unten«) noch auf eine große »anonyme« Manipulationsmaschinerie reduziert, sondern ihn als ein versachlichtes Verhältnis zwischen Personen, die von den Ergebnissen ihrer warenförmigen Produktionen beherrscht werden, begreift. Angesichts der hilflosen Versuche gegenwärtiger linker Politik, des gesamten Spektrums von der parlamentarischen über die »globalisierungskritische« bis hin zur sich selbst als »revolutionär« begreifenden Linken, erscheint es dringender denn je, sich diesem von Marx analysierten Zusammenhang begrifflich zuzuwenden und in Erinnerung zu rufen.
In der Ethnologie bezeichnet das Wort Fetisch einen magisch-kultischen Gegenstand, der, obgleich er von Menschen gemacht ist, »Macht« über seinen Produzenten und seine Gemeinschaft ausübt. Die Marxsche Kritik (der politischen Ökonomie) greift diese, aus der religiösen Welt entlehnte Metapher auf, um damit den polit-ökonomischen Sachverhalt kritisch zu kennzeichnen, dass bloßen Dingen und gegenständlichen Formen (Waren, Geld, Gold, Kapital o.ä.) soziale Regulierungsfunktion zukommt, sich insofern wirkmächtige gesellschaftliche Entwicklungsverläufe »hinter dem Rücken« der Beteiligten vollziehen, indem diese ihre eigenen Produkte, tote Dinge, mit der lebendigen Macht der gesellschaftlichen Beziehungen der produzierenden Personen belehnen. Bei fetischisierten Verhältnissen scheint es, als ob sie selbstverständlich notwendig, »natürlich« und »ewig« wären, weshalb sie von den Menschen auch so reproduziert werden, obwohl diese Zusammenhänge einzig und allein aufgrund ihrer eigenen menschlichen Tätigkeiten bestehen und sie deshalb im Prinzip durch bewusste Änderung dieses menschlichen Zusammenwirkens aufgehoben werden könnten. Als Fetischgestalten stellen sich bestimmte gesellschaftliche Verhältnisse der Personen als gesellschaftliche Verhältnisse von Dingen untereinander und dadurch zugleich als Machtverhältnisse zu Personen dar; damit erscheinen bestimmte gesellschaftliche Beziehungen mystifiziert als gesellschaftliche Natureigenschaften von Dingen (Verdinglichung). In den fetischistischen gesellschaftlichen Erscheinungsformen verkehrt sich das Verhältnis der Produzent_innen zu den Ergebnissen der gesellschaftlichen Gesamtarbeit in eine mystifizierte Macht der Machwerke über die Machenden (Subjekt-Objekt-Verkehrung). Für die darin verwickelten Menschen erhalten diese Formen die Geltung einer Art Naturnotwendigkeit und unmittelbar verblendende Selbstverständlichkeit (als Evidenz), so dass sie erst durch Kritik für Wahrnehmung und Handeln aufgebrochen und auf ihr geschichtliches Gewordensein und ihre gesellschaftliche Vermitteltheit zurückgeführt werden können.
In dieser kurzen Skizze würde der Verzicht auf Marxsche Terminologie, auch im Rahmen eines Einladungstextes, notwendig den Gegenstand entstellen. Dennoch soll klargestellt sein, dass intime Kenntnis solcher Terminologie keine Bedingung zum Besuch der Veranstaltung darstellt. Denn die Veranstaltung hat den Anspruch einen Anfang zu setzen, jenen beschriebenen komplexen Knotenpunkt zu lockern, als Grundlage für einen gemeinsamen Aneignungsprozess der Marxschen Kritik.
Am dritten Negativen Nachmittag des »Seltsamen Zusammenschluss« soll ein kurzes Einführungsreferat über diese bei Marx und in der Marxrezeption (Westlicher Marxismus, Kritische Theorie) so schillernde Metapher ein wenig Aufschluss geben. Anschließend können die Teilnehmer_innen in gemeinsamer Diskussion sich an offenen Fragen, z.B. bezüglich der Aktualität des Marxschen Fetischbegriffs abarbeiten. Dabei könnte auf die Verwickeltheit üblicher linker Praxen, Praxisvorstellungen und gängiger linker Ressentiments in die gesellschaftlichen Fetischformen Bezug genommen werden.
I) Reader: Texte die zur Vorbereitung dienen (und die heruntergeladen werden können und am besten in der folgenden Reihenfolge gelesen werden sollten)
a)Grigat, Stephan: Zur Kritik des Fetischismus. (download)
b)Marxhausen, Thomas: Fetischcharakter der Ware. In: Haug, Wolfgang Fritz (Hg.): Historisch-kritisches Wörterbuch des Marxismus, Bd. 4, Argument Verlag Berlin 1999, Sp. 342-354. (download)
c)Iacono, Alfonso M.: Fetischismus. In: Sandkühler, Hans-Jörg (Hg.): Europäische Enzyklopädie zu Philosophie und Wissenschaften, Bd. 2, Felix Meiner Verlag Hamburg 1990, S. 67-72. (download)
II) Primärtexte: Neben dem Vorbereitungsreader sei vermeintlichen »Streber_innen« zur Vorbereitung folgende Literatur empfohlen.
Marx, Karl: Das Kapital, Band I. MEW Bd. 23, S. 49-108, 161-170.
Marx, Karl: Das Kapital, Band III. MEW Bd. 25, S. 822-839.
Marx, Karl: Einleitung [zur Kritik der politischen Ökonomie]. MEW Bd. 42, S. 15-45.
III) Sekundärtexte
a) zur Einführung
Haug, Wolfgang Fritz: Vorlesungen zur Einführung ins Kapital. Köln 1974.
Heinrich, Michael: Kritik der politischen Ökonomie. Eine Einführung. Stuttgart 2004.
b) zur Interpretations- und Rezeptionsgeschichte des Marxschen Fetischbegriffs
Althusser, Louis: Vom »Kapital« zur Philosophie von Marx. In: Althusser / Balibar (Hg.): Das Kapital lesen I. Reinbek bei Hamburg 1972, S. 11-93.
Kommentar: Althusser war für die französische Marxrezeption der 1960er bis 1970er Jahre sehr wichtig und hatte mit seinen Theorien großen Einfluss auf Leute wie Michel Foucault und Jacques Derrida. Er stellte die These auf, dass bei Marx spätestens ab seinen Vorarbeiten zum »Kapital« (die sogenannten »Grundrisse«) gegenüber seinen früheren Arbeiten ein Bruch auftrete (Althusser bezeichnet diesen Bruch als »einen epistemologischen Einschnitt«): Die vorwissenschaftliche, subjektphilosophische und entfremdungstheoretische Herangehensweise seiner früheren Arbeiten sei in seinen späteren Schriften durch eine neue, nunmehr wissenschaftliche Vorgehensweise ersetzt worden, bei der »Wirklichkeit« und ihre begriffliche Reproduktion, „Real- und Erkenntnisobjekt“ (Althusser, S. 60) strengstens auseinander zu halten seien. „Das von Marx untersuchte Objekt ist […] die bestehende bürgerliche Gesellschaft, gedacht als geschichtliches Resultat; aber die Erkenntnis dieser Gesellschaft wird nicht durch die Theorie von der Entwicklung dieses Resultats vermittelt, sondern ausschließlich durch die Theorie vom ,Gesellschaftskörper‘, d.h. von der aktuellen Struktur der Gesellschaft aus, ohne dass deren Genese zu welchem Zweck auch immer in Erscheinung träte.“ [Ebd. S. 86]
Backhaus, Hans-Georg: Zur Dialektik der Wertform. In ders.: Dialektik der Wertform. Untersuchungen zur marxschen Ökonomiekritik. Freiburg 1997, S. 41-64.
Kommentar: Als ein wichtiger Vorläufer und Auftakt zur sogenannten »Wertkritik«, als deren bedeutendsten Vertreter_innen auf der einen Seite die Gruppe »Krisis« und auf der anderen Seite die »antideutsche Wertkritik« (z.B. ISF) genannt werden kann, muss dieser 1970 erschienene Aufsatz von Backhaus angesehen werden. Der Adornoschüler Backhaus stellt darin die These auf, dass die Marxsche Werttheorie und v.a. der »Fetischcharakter der Waren« seitens des traditionellen Marxismus nie adäquat begriffen und rezipiert wurde. Insbesondere würde die „›ökonomistische‹ Interpretation […] die kritische Intention der Marxschen Werttheorie verfehlen.“ (Backhaus, S. 41) Eine neu angesetzte Interpretation der Analyse des Fetischcharakters habe nun folgendes zu untersuchen: „1. Wie ist für Marx das ›gesellschaftliche Verhältnis der Sachen‹ strukturiert? 2. Warum und inwiefern läßt sich das ›Verhältnis der Sachen‹ nur als eine ›ihm selbst äußerliche und bloße Erscheinungsform dahinter versteckter menschlicher Verhältnisse‹ begreifen?“ (Ebd. S. 47)
Krahl, Hans-Jürgen: Zur Wesenslogik der Marxschen Warenanalyse. In ders.: Konstitution und Klassenkampf. Frankfurt a. M. 1971, S. 31-55.
Kommentar: In den Texten des „Lieblingsschüler Adornos“ (Initiative zum Gedächtnis an Hans-Jürgen Krahl) artikuliert sich die Widersprüchlichkeit der Periode 1967-1970 in der BRD zwischen kritischer Theorie und praktisch-politischen Aktionismus auf einem theoretisch sehr hohen Niveau. War bei Adorno die bewusste Verarbeitung von Auschwitz für Geschichts- und Theorieverständnis konstitutiv, so erfolgte bei der deutschen sogenannten »Studentenbewegung« eine „Abschleifung der Erfahrung von Nationalsozialismus zu einem gefährlich platten Begriff von Faschismus.“ (D. Clausen) Anders dagegen Krahl, der die theoretische Rekonstruktion der Marxschen Kritik der Wert- und Warenform immer zugleich vor jenem unfassbaren Erfahrungshintergrund in Angriff nahm.
Lukács, Georg: Die Verdinglichung und das Bewußtsein des Proletariats. In ders.: Geschichte und Klassenbewußtsein. (Lukács-Werke Bd. 2). Darmstadt u. Neuwied 1977, S. 257-397.
Kommentar: In seinen zwischen 1919-1922 entstandenen Aufsatzsammlung »Geschichte und Klassenbewußtsein« kritisiert Lukács die Marxinterpretationen des orthodoxen Marxismus ab der II. Internationale, denen er vorwirft a) die Hegelsche Dimension der Marxschen Dialektik vernachlässigt zu haben und damit die Marxsche Kritik positivistisch zu deuten, b) die Geschichtlichkeit der Marxschen Befunde zu verhüllen und insgesamt c) ideologisch geworden zu sein. Dieses Ideologischwerden fasst Lukács als ein Reflex des alles gesellschaftliche Leben im Zeitalter des Kapitalismus bestimmenden Phänomens der Verdinglichung auf, das er im Rückgriff auf die Marxsche Analyse des Warenfetischismus beschreibt. Darin erhalten selbst Beziehungen zwischen Personen den Charakter einer Dinghaftigkeit, eine „gespenstige Gegenständlichkeit“ (Marx). Diese Schriften Lukács’ gelten als eines der grundlegenden Werke des sog. »Westlichen Marxismus« und übten u.a. auf die Entwicklung der Frankfurter Schule (Adorno, Horkheimer Marcuse u.a.) einen entscheidenden Einfluss aus. Später – 1967 – kritisiert Lukács seine damaligen Schriften als ein »überhegeln Hegels«, da er damals den Hegelschen »Weltgeist« an bestimmten Argumentationsstellen einfach durch »das Proletariat« ersetzt habe.
Postone, Moishe: Nationalsozialismus und Antisemitismus. In: KRITIK & KRISE Nr 4/5, Sommer 1991, Freiburg (link)
Kommentar: In seinem 1979 geschriebenen Text versucht Postone die Marxsche Kritik des Fetischismus und den eliminatorischen Antisemitismus zusammenzudenken. „Meiner Deutung nach wurden die Juden also nicht nur mit dem Geld, das heißt der Zirkulationssphäre, sondern mit dem Kapitalismus überhaupt gleichgesetzt. Diese fetischisierende Anschauung schloß in ihrem Verständnis des Kapitalismus alle konkreten Aspekte wie Industrie und Technologie aus. Der Kapitalismus erschien nur noch als das Abstrakte, das wiederum für die ganze Reihe konkreter gesellschaftlicher und kultureller Veränderungen, die mit der schnellen Industrialisierung verbunden sind, verantwortlich gemacht wurde. Die Juden wurden nicht bloß als Repräsentanten des Kapitals angesehen (in diesem Fall wären die antisemitischen Angriffe wesentlich klassenspezifischer gewesen), sie wurden vielmehr zu Personifikationen der unfaßbaren, zerstörerischen, unendlich mächtigen, internationalen Herrschaft des Kapitals. Bestimmte Formen kapitalistischer Unzufriedenheit richteten sich gegen die in Erscheinung tretende abstrakte Dimension des Kapitals in Gestalt des Juden, und zwar nicht etwa, weil die Juden bewußt mit der Wertdimension identifiziert worden waren, sondern vielmehr deshalb, weil durch den Gegensatz seiner konkreten und abstrakten Dimensionen der Kapitalismus selbst so erscheinen konnte. Deshalb geriet die ›antikapitalistische‹ Revolte zur Revolte gegen die Juden. Die Überwindung des Kapitalismus und seiner negativen Auswirkungen wurde mit der Überwindung der Juden gleichgesetzt. […] Der moderne Antisemitismus ist […] eine besonders gefährliche Form des Fetischs.“ [Postone]