Sonntag, 3. 6. 2007, 16 Uhr; im »Atelier Unsichtbar« (Innerer Nordbahnhof 73, Stuttgart)

Von der Schule über Wikipedia bis zu Fremdwörterduden verbreitet sich immer wieder das verständige Unverständnis von Dialektik als einem Dreischritt von These über Antithese zur Synthese. Nicht viel besser ist es, wenn in den meisten »Lehrbüchern« des Marxismus-Leninismus in Anlehnung an Engels so genannte »Grundgesetze der Dialektik« angegeben werden, und zwar unabhängig von irgendwelchen Sachverhalten. Schon Hegel bezeichnete solcherlei Schematisierungen und Triplizitäten zur Charakterisierung von »Dialektik« verächtlich als »leblos«, Marx als »scholastisch« und Adorno als »klappernde Schemata«. Durch rein formalisierte Schematisierungen wird Dialektik sachlich entkernt; sie wird damit unsachlich, ungegenständlich und zum Unwesen (»Ein ungegenständliches Wesen ist ein Unwesen.« [Marx]). »Dialektik« analog einer formalen Logik lehren und lernen zu wollen, sei wie »Schwimmen lernen zu wollen, ohne ins Wasser zu gehen« [Hegel].

Dialektik, »dies negative Prinzip« [Hegel], ist nicht wie eine formale Methode zu bestimmen, sie ist kein dem Gegenstand der Erkenntnis übergestülptes logizistisches Verfahren; dennoch kann eine kritisch-wissenschaftliche Rekonstruktion dialektischer Sachverhalte nicht unmethodisch vorgehen. Im Rückblick auf ihren bisherigen, langwierigen historischen Entwicklungsprozess zusammengefasst, ist Dialektik als »Gang der Sache selbst« [Hegel] bestimmt und begriffen. Involviert in die Widersprüche dieses »Gangs der Sache selbst« und als seine darstellende Reflexion ist Dialektik zugleich Kritik. Dialektik und Kritik sind insofern nicht voneinander zu trennen. In ihrer rationalen Gestalt, schreibt Marx, ist die Dialektik den Ideologien und ihren »doktrinären Wortführern ein Ärgernis und ein Gräuel, weil sie in dem positiven Verständnis des Bestehenden zugleich auch das Verständnis seiner Negation, seines notwendigen Untergangs einschließt, jede gewordne Form im Flusse der Bewegung, also auch nach ihrer vergänglichen Seite auffaßt, sich durch nichts imponieren läßt, ihrem Wesen nach kritisch und revolutionär ist.« [Marx]
Leider ist diese kritische und rationale Gestalt derzeit äußerst verhüllt und in sich verkehrt, wenn sie auf gesellschaftlicher Ebene nicht gar gänzlich verdrängt ist; damit einhergehend ist der Begriff »Dialektik« vielerorts mehr und mehr zu einem »Containerwort« ausgehöhlt bzw. – wie etwa im französischen Poststrukturalismus – ganz ad acta gelegt worden. Gegenüber dieser Entwicklung versucht der Referent anhand beispielhafter Sachverhalte und Begrifflichkeiten eine Vorstellung zu vermitteln, was »dialektische Kritik« heißen kann, als Einführung, als Anfang einer Wiederaneignung und Vorbereitung in eine »kritische Dialektik«.
Im Mittelpunkt dieses Negativen Nachmittags wird auf der Grundlage beispielhafter Sachverhalte eine Auswahl von dialektischen Kategorien und Reflexionsbegriffe stehen, wie 1) das Verhältnis von »Schein, Wesen und Erscheinung«, auf das schon beim NN zur Fetischkritik zurückgegriffen werden musste. Damit hängt 2) das Problem der »Unmittelbarkeit und der Vermittlung« (als Prozess) bzw. der »Vermitteltheit« (als Resultat und als Voraussetzung) zusammen, sowie 3) das Verhältnis von »Abstraktion und Konkretion« bzw. 4) die Dialektik zwischen dem »abstrakt« und dem »konkret Allgemeinen«, dem »Besonderen« und dem »Einzelnen«. Von hier aus ist 5) auf »interne Beziehungen« und das sie »übergreifende Moment« (oder auch »übergreifende Allgemeine«) zu verweisen, als die »Beziehung der Beziehungen« bzw. als das »Verhältnis der Verhältnisse«, d.h. als »Totalität«. Damit kann 6) erläutert werden, was die Kategorien des »Prozesses«, »Veränderung« und »Aufhebung« als dialektische bedeuten sowie 7) was ein »dialektischer Widerspruch« ist. Schon allein diese Kategorien und ihr Zusammenhang anhand beispielhafter Sachverhalte zu erläutern, erscheint als äußerst ambitioniertes und als so umfangreiches Programm, dass es dem Verlauf der Veranstaltung selbst geschuldet sein wird, ob auf weitere, eigentlich nicht vernachlässigbare dialektische Reflexionsbestimmungen und Kategorien, wie »Quantität und Qualität«, »Möglichkeit, Wirklichkeit, Notwendigkeit, Zufall und Realität«, »Zweck und Mittel«, »Theorie und Praxis«, »Subjekt, Mittel und Objekt« etc. noch eingegangen werden kann.
Letztlich hängen aber all diese Begriffe und Kategorien sozusagen »idealistisch in der Luft«, wenn sie nicht als Momente der »Arbeit des Begriffs« [Hegel] begriffen werden, die »materialistisch« zurück reflektiert werden müssen auf den »Begriff der Arbeit« und damit auf die formbestimmten und formbestimmenden Mittel und gesellschaftlich-historischen Vermittlungszusammenhänge des »Stoffwechselprozesses« [Marx], so dann auf Produktion und Reproduktion der bürgerlichen, kapitalistischen Gesellschaft sowie auf die fetischistischen Verkehrungen, die aus diesen Verhältnissen entspringen. Darum versteht sich dieser Negative Nachmittag als Fortsetzung zum NN Fetischbegriff in der Marxschen Kritik der politischen Ökonomie und darüber hinaus wird im Herbst ein weiterer NN zur kritischen Reflexion der Kategorie »Arbeit« folgen.

Diese Veranstaltung wird gefördert vom Rosa-Luxemburg-Forum für Bildung und Analyse in Baden-Württemberg e.V.

Literatur:

• Biene Baumeister Zwi Negator: Glossar (hier v.a. die Stichworte: »Dialektik«, »Historizität«, »Kritik«, »Reflexion«, »Totalität«, »Trennung«). In dies.: Situationistische Revolutionstheorie. Eine Aneignung. Vol.II: Kleines Organon. Stuttgart 2005, S. 176-234.
• Hegel, G.W.F.: Wer denkt abstrakt? In: Hegel-Werke Bd. 2, S. 575-581.
• Hegel, G.W.F.: Womit muß der Anfang der Wissenschaft gemacht werden? In ders.: Wissenschaft der Logik. Hegel-Werke Bd. 5, S. 65-79.
• Jánoska, Bondeli, Kindle und Hofer: Das »Methodenkapitel« von Karl Marx. Ein historischer und systematischer Kommentar. Basel 1994.
• Marx, Karl: Einleitung (zu den »Grundrissen der Kritik der politischen Ökonomie«) [siehe MEW Bd. 42 S. 15-45 oder MEW Bd. 13, S. 615-642; besser aber: MEGA II/1.1 S. 21-45.]

Lexikaartikel:

• »Dialektik«. In: Ritter, Joachim und Gründer, Karlfried (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Band 2. Basel 1972.
• »Kritik«. In: Sandkühler, Hans Jörg (Hg.): Europäische Enzyklopädie zu Philosophie und Wissenschaften, Band 2. Hamburg 1990.